Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Empörungskurve
in der Schweizer Europapolitik

2018 erläuterte ein hoher Bundesbeamter in einem Vortrag die Empörungskurve in der schweizerischen Europapolitik. Er beobachte diese Kurve seit vielen Jahren.

Die Regierungskunst besteht darin, im Verlauf der Empörungskurve den richtigen Zeitpunkt für die Volksabstimmung zu treffen.

Empörungskurve zum Waffenrecht

Die letzte, nunmehr erledigte Empörungskurve ist jene zum Waffenrecht, in Umsetzung der geänderten EU Waffenrichtlinie.

2017 haben die gesetzgebenden EU-Gremien, EU-Parlament und EU-Rat, neue europäische Regeln zum Waffenrecht erlassen. Auslöser waren die Terroranschläge in Paris, Brüssel und Kopenhagen.

In ihrer Rolle als Nicht-EU-Mitglied hält sich die Schweiz freiwillig von der Gesetzgebung zum europäischen Recht fern. Sie übernimmt jedoch laufend und in grossem Umfang europäisches Recht, sei es über Verträge, sei es über das Äquivalenzverfahren (aktuelles Beispiel: Börsenäquivalenz).

Mit dem Schengen-Vertrag hat sich die Schweiz verpflichtet, die von den gesetzgebenden EU-Gremien erlassenen Regeln zum Waffenrecht zu übernehmen. Übernimmt sie die neuen Regeln nicht innert zwei Jahren, wird das Abkommen mit der Schweiz aufgelöst.

Start der Empörung

Kaum waren die europäischen Regeln bekannt, setzte in der Schweiz die Empörungswelle auf einem bereits hohen Niveau ein, alimentiert von den Rechtsnationalen, Schiessverbänden, Pro Tell, Jagdvereinen, Offiziersgesellschaft und von den Medien. Wegen der Beschränkung des privaten Gebrauchs halbautomatischer Waffen war von skandalöser Entwaffnung des Schweizer Volks die Rede.

Den Höhepunkt erreichte die Empörungskurve im Dezember 2018 während der Referendumskampagne gegen das angepasste Waffengesetz. Die Kurve begann sich zu senken als im Januar 2018 auch noch die Offiziersgesellschaft auf den Referendumszug aufsprang.

Die drei Medienkonzerne, Ringier, Tamedia und NZZ, bauten danach deutlich Empörung ab. Die EU-Gegner gerieten ins Hintertreffen. Die Emotionen liessen sich – ohne die Medienkonzerne - nicht mehr so leicht mobilisieren, trotz den von den Europa-Gegnern für Internetwerbung, soziale Medien und Bahnhofsplakate eingesetzten Millionen.

Heute, nach der Volksabstimmung vom 19. Mai 2019, hat die Empörungskurve zur EU-Waffenrichtlinie den Nullpunkt erreicht.

Die Anstifter der Empörten sind in den Schiessständen und anderswo zur Tagesordnung zurückgekehrt und bezahlen die Rechnungen für die teure Kampagne. Aus den Medien ist das Thema total verschwunden.

Empörungskurve zum Rahmenabkommen

Am Laufen ist gegenwärtig die Empörungskurve zum Rahmenabkommen Schweiz/EU.

Bei Bekanntgabe des Verhandlungsergebnisses im Dezember 2018 startete die Empörungswelle wiederum auf sehr hohem Niveau. Diesmal alimentiert von den Rechtsnationalen, den Linken, den Gewerkschaften, vom Gewerbeverband und wiederum den Medien.

Die Regierung selbst leistete einen massgeblichen Beitrag, indem sie Ende Dezember 2018 – in neuer Zusammensetzung – mitteilte, sie werde das Abkommen nicht unterzeichnen.

Damit desavouierte sie ihren Verhandlungsführer Balzaretti nachträglich, nachdem sie vorgängig jeden einzelnen Punkt des Abkommens – allerdings in alter Zusammensetzung – abgesegnet hatte.

Die Verweigerung der Vertragsunterzeichnung lieferte der Empörung einen kräftigen Schub. Die Tamedia-Medien liessen im Januar 2019 verlauten, das Rahmenabkommen sei einer Demokratie unwürdig, es sei unannehmbar.

Klimax der Empörungskurve

Jetzt im Sommer 2019 dürfte die Empörung über das Rahmenabkommen ihren Klimax überschritten haben.

Am 7. Juni 2019 schrieb der Bundesrat dem EU-Kommissionspräsidenten einen Brief „par courrier électronique“. Es besteht Dringlichkeit. Ende Juni 2019 erlischt die provisorische Anerkennung der Schweizer Börse als äquivalent nach den Regeln des europäischen Binnenmarktes.

Der Bundesrat bittet in seinem Brief um eine Verlängerung. Die Position der Regierung gleicht der britischen Brexit-Position – Hinausschieben, Hinausschieben und nochmals Hinausschieben und um Gnade bitten.

Nach belehrenden Ausführungen zum Schweizer Politsystem, schreibt der Bundesrat, er brauche noch Klärungen, um das ausgehandelte Abkommen dem Parlament übermitteln zu können.

Er belässt es bei „Klärungen“. Er weiss, eine Neueröffnung der Ende 2018 abgeschlossenen Verhandlungen hat kaum Chancen – auch wegen dem Brexit. Seit Boris Johnson bei den Schweizer Europa-Gegnern aufgetaucht ist, sind die Chancen nochmals gesunken.

Neu signalisiert der Bundesrat, er werde das Abkommen – entgegen seiner Position Ende Dezember 2018 – doch unterzeichnen, wenn er aus Brüssel hilfreiche Worte erhalte.

Die drei Medienkonzerne, Ringier, Tamedia und NZZ, reagieren darauf positiv und beginnen mit dem Abbau der Empörung. Der Brief des Bundesrates wird wohlwollend als vernünftig und realistisch kommentiert, obwohl im schwammigen Text keine inhaltliche Änderung des Abkommens verlangt wird.

Steuerprivilegien, Monopole, Subventionen

Der Bundesrat will eine Erklärung der EU, wonach staatliche Eingriffe in den Wettbewerb durch Monopole, Subventionen und Steuerprivilegien auch in Zukunft in der Schweiz zulässig sein sollen. Wettbewerbseingriffe, die in allen andern 31 Ländern des europäischen Binnenmarkts nicht zugelassen sind.

Damit sollen Forderungen der Kantonsregierungen befriedigt werden. Diese wollen auch in Zukunft Steuerprivilegien (Steuerbefreiungen, Steuerrulings) nach politischen Kriterien an einzelne, von ihnen ausgewählte Firmen vergeben können, was nach Binnenmarktrecht ausgeschlossen ist.

Aus Sicht der EU verletzen die kantonalen Steuerprivilegien für einzelne Firmen Artikel 23 Absatz 1 Buchstabe iii des Freihandelsabkommens vom 22.07.1972 (FHA). Danach ist jede staatliche Beihilfe, die den Wettbewerb durch Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige verfälscht, mit dem FHA unvereinbar.

Der Bundesrat hatte die EU-Interpretation von Artikel 23 FHA stets von sich gewiesen, mit dem Argument, Steuerprivilegien seien keine Beihilfen. Mangels einer geregelten Streitschlichtung zum FHA dauerte der Streit über den Begriff „Beihilfen“ jahrzehntelang.

Am 14.10.2014 hat der Bundesrat die EU-Interpretation indessen anerkannt: damals unterschrieb Bundesrätin Schlumpf in Brüssel die Verpflichtung der Schweiz zur Abschaffung der sog. Statusgesellschaften. Diese privilegierten Gesellschaften zahlen nach Artikel 28 des Steuerharmonisierungsgesetzes keine kantonalen Steuern auf ausländischen Einkünften.

Mit Volksabstimmung vom 19. Mai 2019 wurden die Statusgesellschaften abgeschafft und damit die EU-Interpretation von Artikel 23 FHA vom Souverän anerkannt.

Das Rahmenabkommen sieht verklausuliert vor, dass zur Auslegung des FHA-Begriffs „Beihilfen“ der EuGH angerufen werden kann. Der EuGH würde die noch immer bestehenden anderweitigen kantonalen Steuerprivilegien für einzelne Firmen wohl als unvereinbar mit dem FHA beurteilen, weil sie offensichtlich den Wettbewerb massiv beeinträchtigen.

Das wollen die Kantonsregierungen verhindern. Deshalb verlangt der Bundesrat jetzt von der EU, dass dieser Passus, den er im November 2018 akzeptiert hatte, wieder aus dem Rahmenabkommen gestrichen wird.

Im Strombereich sollen Monopole und Subventionen beibehalten werden. Das Stromabkommen rückt mit solchen Zumutungen in weite Ferne. Strom kann im europäischen Binnenmarkt nur unter Wettbewerbsbedingungen und unter Einhaltung der Umweltschutzregeln verkauft werden.

Diskriminierung von EU-Handwerksbetrieben

Der Bundesrat verzichtet in seinem Brief vom 7. Juni 2019 auf die Übernahme der Forderung der Gewerkschaften, die 8-Tage-Voranmeldefrist für Arbeiten von EU-Handwerksbetrieben in der Schweiz sei beizubehalten.

Diese Regel wurde in der öffentlichen Debatte mit dem Label „Lohnschutz“ versehen. In der Sache geht es indessen um eine vor über zehn Jahren von der Schweiz einseitig eingeführte bürokratischen Hürde, um EU-Handwerksbetriebe von Schweizer Kunden fernzuhalten.

Ginge es um Arbeitnehmer- und Lohnschutz durch Lohnkontrollen müsste die Frist nicht-diskriminierend auf alle Handwerksbetriebe angewendet werden, inländische wie EU-Betriebe.

Die Kontrollen müssten behördlich und nicht durch die Schweizer Konkurrenz (Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen) durchgeführt werden. Sicher befürchten die Gewerkschaften erhebliche finanzielle Einbussen, wenn ihnen ihre jetzige ausgedehnte Kontrolltätigkeit abhandenkäme.

Der Bundesrat lässt es in seinem Brief mit der einseitigen Erklärung bewenden, für den bestehenden Schutz des Niveaus der Schweizer Löhne müsse Rechtssicherheit bestehen. Dass in der Schweiz ein rechtlicher Schutz des Lohnniveaus bestünde, wäre indessen eine absolute Neuigkeit.

Diskriminierung von EU-Arbeitnehmern

EU-Arbeitnehmer, die während mehr als fünf Jahren ihren rechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz hatten, dürfen nach den Binnenmarktregeln grundsätzlich bezüglich der Sozialhilfe nicht diskriminiert werden. Dasselbe gilt für Schweizer in allen Binnenmarkt-Ländern.

Die fremdenfeindlichen Rechtsnationalen verlangen, dass eine Anwendung dieser Binnenmarkt-Regel auf EU-Arbeitnehmer, die seit mehr als fünf Jahren rechtmässig in unserem Land sind, im Abkommen ausdrücklich ausgeschlossen wird.

Der Bundesrat übernimmt die Forderung nicht. Er äussert lediglich die Ansicht, das Abkommen könne nicht so interpretiert werden, dass die Schweiz die EU-Personenfreizügigkeits-Richtlinie übernehmen müsse.

Darum geht es indessen nicht. Ausschlaggebend ist, ob die Schweiz nach dem geltenden Abkommen über die Personenfreizügigkeit die Regel anwenden muss.

Abflauen der medialen Empörung

Ob die EU die gewünschten hilfreichen Worte zu den staatlichen Wettbewerbseingriffen, zum Schutz des Schweizer Lohnniveaus und zur Diskriminierung von EU-Arbeitnehmern in der Sozialhilfe abgegeben wird, ist durchaus zweifelhaft.

In der Schweiz wird oft verkannt, dass nicht nur die EU-Kommission, sondern auch der EU-Rat, das EU-Parlament und der EuGH, formell oder informell Massnahmen zustimmen müssen, die den Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträchtigen oder EU-Bürger im Geltungsbereich des Binnenmarktrechts diskriminieren. Es kommt also nicht allein auf Herrn Juncker an.

Ausschlaggebend für die Schweizer Innenpolitik ist indessen, dass die drei Medienkonzerne Ringier, Tamedia und NZZ mit dem Abbau der medialen Empörungs-Bewirtschaftung begonnen haben.

Das ermöglicht eine Abstimmung im Jahr 2020, sofern die Empörungskurve ihren üblichen Verlauf nimmt.

Für die Medienkonzerne sind Aufbau und Abbau der Empörung ökonomisch interessant, da beide emotional enorm aufgeladen sind und so Aufmerksamkeit für ihre Produkte und Medienkonsum fördern.

Was bleibt, ist ein fundamentales Glaubwürdigkeitsproblem innerhalb des Bundesrates. Die vier rechts und rechtsaussen stehenden Mitglieder sind ideologisch gegen Europa eingestellt. Durch diese 4:3-Mehrheit ist die Teilnahme der Schweiz am europäischen Binnenmarkt am meisten gefährdet.

09.06.2019

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